Vortrag von Johannes Wickert
Wer bei mir ein Portrait bestellt, den bitte ich, seine Füße herzuzeigen. Manche lassen sich davon überzeugen, dass auf der Leinwand statt des Konterfeis gestaltete Füße ein höchst individuelles, charakteristisches Bildnis darstellen können. Nach meinem Kunststudium – mit dem Schwerpunkt Portraitmalerei – begann ich durchaus oben, das heißt mit der malerischen Bearbeitung des menschlichen Gesichts. Aber langjähriges Psychologisieren wurzelte die künstlerische Praxis immer weiter hinunter bis zum Fuß-Pol, dort wo der Mensch die Erde berührt. Wie ein Mensch auf dem Boden steht, wurde mir zur Chiffre für seinen Weltbezug; wie er geht, zum Sinnbild seiner Aktivität.
Der unterste Teil des menschlichen Körpers, die geheime Welt unter dem Tischtuch, weckte meine Neugier viel stärker als das im Blickfeld liegende „öffentliche“ Verhalten. Hier kontrollieren soziale Maßstäbe weitgehend das Geschehen, während dort, im Verborgenen, jene vergessenen Füße unmittelbarer, authentischer, ehrlicher innere seelische Zustände und Prozesse auszudrücken vermögen: Sie krampfen und entspannen sich, drehen sich und klopfen, trippeln, schlagen zusammen, zucken oder erschrecken, schlafen ein, strecken interessiert die Zehen aus oder rollen sie gekränkt ein – soweit sich dies alles in einem engen Schuhwerk überhaupt entfalten lässt.
Eines jeden Menschen Füße weisen eine unverwechselbare Physiognomie auf, ein einmaliges Verhaltensrepertoire. Jeder Fuß – konstruiert aus 26 Knochen, 114 Bändern und 20 Muskeln – sei ein Meisterwerk der Mechanik, meinte Leonardo da Vinci. Jeder Fuß formt sein eigenes Fuß-Gesicht.
Seit Jean D'Artis im Jahr 1619 seine Fußlehre Pedis Admiranda in lateinischer Sprache publizierte1, sammelte sich ein aufschlussreiches Untersuchungsgut ausdruckspsychologischer Fußforschung an: Zum Stehen, zum Gehen, zum Tanzen; es fanden sich Zusammenhänge zwischen Füßen und Religion, Füßen und Sexualität und natürlich über die Zusammenhänge zwischen Füßen und gesundheitlichem Wohlbefinden. Man kann dabei auf geschlechtsspezifische Aspekte achten2 oder eine Entwicklungspsychologie der Füße schreiben: Vom greiffähigen Füßchen des Säuglings bis hin zum schwer gehenden, adrigen Altersfuß mit seiner in vielleicht acht Jahrzehnten erlaufenen Hornhaut.
In der darstellenden Kunst allerdings bevorzugen selbst große Meister oft nur ein einziges Fußschema. Ausgenommen Mantegna, Grunewald oder, in neuerer Zeit, Magritte und Baselitz3. Sie schufen in ihren Bildern jeweils individuelle Fußgestalten.
Aus einem Fußbild kann ein Weltbild werden: So habe ich einige Male großformatig das Sujet des letzten Abendmahls bearbeitet, freilich mit Blickrichtung unter den Tisch. Für die einzelnen Apostel suchte ich, geleitet von jenen Kenntnissen, die über ihre Persönlichkeit tradiert wurden, adäquate Modelle, deren Füße und Waden ich studierte und malte. Was für ein herrlicher, aus 24 Körperteilen komponierter Bestand an Heiligkeit aufeinander abgestimmter Fußformen lässt sich da erblicken!
'Kirche von unten' – findet diese leise Basis-Bewegung in Fußbildern einen Ausdruck? Wie soll man sich, so tagträume ich weiter, die Erschaffung des ersten Menschen vorstellen: Schuf Gott zuerst die Füße und arbeitete sich dann von unten nach oben?
„Wenn ich, der Herr und Meister euch die Füße gewaschen habe, dann müsst auch ihr einander die Füße waschen." Die im Johannes-Evangelium im 13. Kapitel beschriebene Vorbereitung auf den Pessach-Segen, das letzte Abendmahl, hat eine vielfältige und umfangreiche Auslegung erfahren. Einerseits war im gesamten Alten Orient der Brauch verbreitet, ankommende Fremde durch eine Fußwaschung zu erquicken4: In vornehmen Häusern fand der Gast dazu ein reich verziertes Gefäß vor – und zwar keineswegs ein einfaches niptir, wie das Fußwaschbecken in der griechischen Bibel bezeichnet wird. Odysseus, der als Bettler unerkannt nach Hause kam, erfuhr nach Homer bei seiner Ankunft jenes Labsal durch seine frühere Amme, Eurykleida. Bei den Juden aber galt das Waschen der Füße eines anderen als ein kaum zu übertreffendes Zeichen der Erniedrigung: Nur nichtjüdische Sklaven kamen für dieses Geschäft in Frage. Wenn nun, so deutet Augustinus die Szene, der Christus, der Herr des Himmels und der Erde, sich zu den Fußsohlen seiner Geschöpfe neigte, so spiegele sich in dieser Geste die Hinneigung der Gottheit zu den Menschen, eine Hinneigung, die Erlösung bringt. Wer sich zu den Füßen anderer bücke und sie wasche, äußere damit tiefe Demut und Nächstenliebe.
Im früheren christlichen Klosterleben wurde unter dem Namen mandatum ein reiches Brauchtum der Fußwaschung gepflegt. So nannte man die Fußwaschung nach den Abschiedsworten Christi: Mandatum novum do vobis – ein neues Gebot gebe ich Euch. Die Mönche praktizierten das mandatum hospitum (die Gastfußwaschung), ein mandatum fratrum (die Fußwaschung der Mönche untereinander) oder auch die Armenfußwaschung am Gründonnerstag, die durch Gebete und den Gesang von Psalmen und Hymnen begleitet wurde.
Aber entscheidend blieb in der christlichen Tradition nicht jener beispielhafte soziale Rollentausch, den Jesus vornahm, als er mit der Fußwaschung an seinen Jüngern gemeine Sklavenarbeit verrichtete; nach der Deutung der Kirchenväter wurde die Fußwaschung vielmehr unmissverständlich mit der Sündenvergebung gleichgesetzt – nachzulesen unter anderem bei Bernhard von Clairvaux, Heimo von Halberstadt, Rubert von Deutz, Hugo von St. Viktor, Sicardus von Cremona, Thomas von Aquin.
Welch bedeutende Position erlangen doch in diesem Kontext die Füße, wenn ihre Waschung zum signifikanten Symbol der Erlösungstat Christi wird. Denn Augustinus5 folgert: Wer in menschlichen Verhältnissen lebt, betritt die Erde. Die menschlichen Affekte, ohne die niemand in dieser Sterblichkeit leben kann, sind sozusagen durch die Füße repräsentiert. Täglich wäscht einem derjenige gleichsam die Füße, der für einen Fürbitte einlegt. Und täglich hat es der Glaubende nötig, die Wege seiner geistigen Schritte gerade zu richten.
In diesem mönchisch-asketisch geprägten Umfeld erhalten die Füße eine deutlich negative Bedeutung: Sie sind erdbefleckt und als solche Symbol für die Sündhaftigkeit des Menschen im Ganzen. Wer seine Füße waschen lässt, wird ganz rein. Eigenartig scheint es, dass an diesem Körperteil die Erlösungstat ansetzt als gelte es, die Füße zu befreien. Ja, erklärt Origenes6, es gehe tatsächlich darum, die Seele von den Füßen zu lösen. Die Füße seien eben, ergänzt Bernhard von Clairvaux7, synonym für die schlechten Neigungen der Seele: Für den, der auf ihnen stehe, sei es unmöglich, auch nur für einen Augenblick Eitelkeit, Begehrlichkeit oder Neugierde abzulegen.
Der gläubige Christ solle also nach oben schauen. Sein Blick ist nicht erdbezogen, sondern wolken- und himmelwärts gerichtet, der Schwerkraft entgegengesetzt. Engel haben Flügel, Menschen Füße. Das Gottesreich wird ins Überirdische projiziert.
Solange sich Menschen mitzuteilen vermochten, brachten sie stets Assoziationen zum 'Oben' und 'Unten' hervor8. 'Oben' will sagen: das Göttliche, Geistige, das Oberhaupt, die Oberschicht. 'Unten' kann bedeuten: das Minderwertige, Gemeine, das Niedere und Schmutzige, die Unterschicht. Füße befinden sich unten und sind folglich nicht frei von jener Konnotation, die sich für diesen niederen Platz eingebürgert hat.
Stelzen wären da hilfreich: Stelzen erheben den Menschen und schaffen zum Erdboden einen Abstand. Stelzschuhe waren im Venedig des ausgehenden 15. Jahrhunderts Mode. Sie konnten eine Höhe von 17 cm erreichen. Die Kirche sah diese Erscheinung damals wohlwollend, nicht nur, weil die Stelzschuhe ausgelassener Tanzeslust entgegenwirkten und kühne, freche Mobilität aufhielten, sondern in der Hauptsache, weil Stelzen die Menschen dem Himmel um ein Weniges näher brachten.
Umgekehrt aber liegt im Sich-Verbeugen, im Knien, im Knicksen ein Zeichen der Verehrung, im Nach-unten- Gehen, im Sich-klein-Machen eine Geste der Erniedrigung und Demut. „Ich lege mich Dir zu Füßen, damit Du Deine sieghaften Füße auf mich stellen kannst!" In der gebückten Stellung kann ich weder kämpfen noch weglaufen. Unmissverständlich gebe ich meinem niederen Rang in einer Hierarchie Ausdruck und verzichte auf einen festen Stand. In Thailand etwa erreichte man nur auf dem Bauche kriechend den Thron des Herrschers. Nicht nur von Diokletian, dem eitlen römischen Kaiser, weiß man, dass Besucher, selbst Senatoren, beim Empfang und Abschied seine Füße küssen mussten.
Doch nochmals zur Fußwaschung des Jesus von Nazareth. Jesus meinte seinen Jünger Judas Ischkariot9, wenn er feststellte: „Einer hat gegen mich seine Ferse erhoben." Wohlgemerkt: seine Ferse. Judas und seine Ferse. Der Mann aus Kariot, Judas, stand gläubig und kraftvoll mit beiden Füßen auf der Erde. Die ihm zugeschriebene Rolle des Verräters in der üblichen, überlieferten Form passt wenig auf ihn: Er sorgte realitätsbezogen für die emporstrebende Glaubensgruppe, organisierte Essen und Unterkunft und litt als politisch wacher Mensch unter der Willkürherrschaft der Römer. Judas war felsenfest davon überzeugt, dass Jesus; an dessen Göttlichkeit er glaubte, Frieden auf Erden bringen konnte. Er stand allein, weil er nur stand. Er hatte – ich hoffe, dass ich diesen Begriff von Ernst Bloch hier verwenden darf – einen „aufrechten Gang". Der stehende Judas konnte jene wohl nicht begreifen, die kniend beten.
Und seine Ferse, die er erhob? Die Geschichte der menschlichen Ferse ist spannend und uralt10. Als anfangs die Erde – so berichtet die griechische Mythologie – in der Gestalt des Peleus mit Thetis, dem Wasser, in Anwesenheit fast aller Götter (allerdings fehlten die Gestirne) Hochzeit feierten, ging aus dieser Ehe der fast vollkommene Mensch hervor: Achilles. Seine sorgende Mutter badete ihn in den Wassern des Styx, um durch diese Taufe den Sohn gegen die Nöte des Lebens zu stärken. Unglücklicherweise aber wurde seine Ferse nicht von Wasser benetzt. Ausgerechnet die Ferse, die durch Adern, so nahm man an, mit dem Becken verbunden sei, mit dem Becken, in dem doch die Wollust sitze! Tragisch, denn somit sind auch wir Menschen an der Ferse gegenüber den Reizungen der Wollust ungeschützt – diese hellenistische Mythologie war im frühen Judentum durchaus bekannt und beeinflussten dessen Rituale der Fußwaschung. Später tat sich im abendländischen Denken Ambrosius11 hervor und mühte sich in Sachen Ferse um Aufklärung: Die Taufe – so der Mailänder Bischof und Lehrer des Augustinus – vergebe die persönliche Schuld, die Fußwaschung dagegen die Schuld Adams. Denn das Gift der Schlange, des Menschen Feindin, sei über Adams Ferse geflossen, und obendrein habe das Biest mit seinem Zahn die menschliche Ferse verletzt. Seitdem sei der Mensch dort verwundet. Eine nicht unerhebliche Beschädigung der Schöpfung, unter der die Menschen alle zu leiden hätten und in deren Folge sie, nach Ambrosius, alle ein wenig hinken würden. Die Fußwaschung Jesu desinfiziere die Wunde und reinige den Sitz der Begehrlichkeit vom Schlangengift.
Das Verhängnis zieht aber noch weitere Kreise: Auch der Lederschuh wurde bei Ambrosius, dem andere frühkirchliche Schriftsteller folgten, als ein sündhaftes Symbol gedeutet. Der Gläubige müsse sich von dieser Bande der Bosheit, seinen Schuhen, lösen, sie ausziehen, die Füße waschen und sich erheben.
Andere Kulturen und Religionen bringen demgegenüber durchaus eine alternative, positive, ja liebevolle Behandlung der Füße ins Blickfeld. Sucht ein Inder Kontakt zu einem Reisenden, schaut er auf dessen Füße und legt drei Äpfel daneben. Wird unterwegs ein Guru erkannt, werden selbst Wildfremde ihm die Füße küssen. Man möchte profitieren von jener Kraft, die in seinen Füßen, dem Gehäuse seiner Seele, Wohnung genommen hat. Die Füße sind die Kontaktstelle, an der sich überindividuell-Geistiges mit einem individuellen bodenberührenden Körperteil trifft. So erklärt sich, dass jeder Fußabdruck eine einmalige Zeichnung hinterlässt, die sich zur Identifizierung seines Trägers eignet.
Aber nicht nur in der Fremde, selbst im Nährboden der abendländischen Kultur, teils im Ägyptischen, vor allem aber in der antiken Mythologie und Philosophie wurzelt eine abgöttische Verehrung der Füße. Kein Autor hat dies mit mehr Begeisterung vorgeführt als der schon erwähnte Jean D'Artis. Seine Schrift Die Wunder der Füße blieb 370 Jahre so gut wie ungelesen; D'Artis hielt – und in diesem Punkt denkt er Anfang des 17. Jahrhunderts noch scholastisch – für wahr, was sich durch das Wort einer Autorität belegen ließ, sei es Homer oder Hesiod, Sophokles oder Diogenes. Und Jean D'Artis wurde da außerordentlich fündig. In Homers Epos llias liest er: „Mein Sinn fiel auf die Füße"12, eine Blickrichtung, der D'Artis folgt, und er bemerkt, dass all seine „Träume und Gedanken [in den Füßen] ihren Ursprung haben..."13
Kein Wunder, denn schon Gott Merkur, der Lehrmeister aller Schriftsteller, kümmerte sich stets zuerst um seine Füße. So soll es bleiben. Und in keinem Fall kann es ein Ziel sein, reich zu werden! Lehrte doch Chrysostomos, Reiche hätten weder Hände noch Füße.
Dass es nun aber gerade die Füße sind, die das Hauptstück jeglichen Forschens und Räsonierens bilden, liegt einzig an den Göttern. Jede Gottheit betreut einen Teil des Menschen. Merkur ist's, in dessen Obhut die Füße liegen. Gleichwohl weisen alle anderen Gottheiten einen individuellen Gang und Eigenarten an ihren Füßen auf: Hebe zum Beispiel hatte schöne Knöchel, das wusste Homer; Hera, so teilt Hesiod mit, ist goldfüßig und Isis besonders schnell.
Aber all das ist nicht der springende Punkt. Entscheidend ist: Das Göttliche der Gottheiten liegt viel eher in ihren Füßen als sonstwo. Aus diesem Körperteil, ihren Füßen, sprudle dem Menschen, so D'Artis, heilbringendes Wasser. Will der Mensch sich selbst erkennen, soll er nicht Atome oder Sterne untersuchen, sondern seine Füße. „Der Fuß ist der ganze Mensch", so D'Artis wörtlich, „sein Haupt, sein Herz und das wahre Wesen des Menschen [...] der Mensch [ist] der Fuß Gottes"14 – ist eine solche Behauptung überhaupt zu begreifen? Hat sich D'Artis nicht verstiegen und eine närrische Übertreibung geliefert? Denn selbst für den, der einen göttlichen Ursprung des Menschen noch akzeptieren mag, stellt sich die Frage: Warum nur soll sich die Gottheit von Fuß zu Fuß vererben?
Wie dem auch sei, Jean D'Artis hebt zwei Punkte hervor: Der Fuß ist ein individuelles Merkmal – diese Tatsache führt zu der Aussage: „ich bin". Zweitens aber, so D'Artis wörtlich: „Wenn [...] jemand sagt, dass sein Fuß da sei, meint er, dass er selbst anwesend sei"15 – ein Gedankenschritt, der folgenden Satz hervorbringen lässt: „Ich bin da". Durch die Füße habe ich Gegenwart; ich stehe und gehe auf der Welt. Meine Füße sind das entscheidende Instrument meiner Existenz, für D'Artis das Leben schlechthin. Wenn wir sterben, sterben wir am Fuß. Der Fuß ist die ganze Seele des Menschen, begabt mit allen, wirklich allen Seelenvermögen, er ist das konzentrierteste menschliche Organon. Der Fuß ist, mit einem Wort, heilig zu nennen und– so Jean D'Artis – Richtschnur „aller Dinge und unseres ganzen Lebens"16. So weit und so gut der Bezug auf den Artisischen Hymnus über die Füße, der sicher eines deutlich machte, dass es den Füßen nämlich zu allen Zeiten zugesprochen wurde, sowohl sündig und heilig zu sein. So wandern sie jahrtausendelang durch die Kulturen und in diesem zweifachen Sinn wurden und werden ihre Spuren gelesen.
In einem Klosterziegel in Herrenalb17 kann man drei eingekratzte Sohlenumrisse bewundern. Auch andernorts – wie in Feuchtwangen, Mittelstadt, Schulzendorf oder Lindau – lassen sich solche Fußabdrücke, meist aus dem 16. Jahrhundert, entdecken, die im Weichzustand in Ziegelplatten eingedrückt wurden. Häufig weisen solche Ziegel auch kindliche Fußabdrücke auf. Sie sollten die frische, unschuldige Lebenskraft der Kinder in magischer Weise auf das jeweilige Bauwerk übertragen. Zudem bekräftigte der Fußabdruck den Rechtsakt beziehungsweise den Besitz eines Bauobjektes.
Nachzutragen wäre noch, dass Fuß und Schuh als Bezeichnung oft füreinander stehen. Obwohl Schuhe gestaltete Objekte sind – hergestellt aus Leder oder Stoff, Stroh oder Holz, Gummi oder Plastik – und zahlreiche Funktionen erfüllen – sie dienen der Mode und Schönheit, dem Schutz und der Gesundheit, den Berufen und Hobbies, sie stellen Symbole für Status, Geschlecht und Lebensalter dar – obwohl dies so ist, werden die Schuhe dennoch eng mit dem Fuß verbunden gesehen, so als sei ein Schuh dessen äußere Haut. In der Literatur werden die Worte Fuß und Schuh oft synonym gebraucht, so auch im erkenntnisergiebigen Brauchtum, über das sich stundenlang nachdenken ließe.
Denn an vielen heiligen Orten wurden Fußspuren identifiziert: An der Himmelfahrtsstelle auf dem Ölberg ließ Jesus angeblich seinen Fußabdruck zurück und auf dem Monte Gargano in Apulien der Erzengel Michael den seinen. Pilger meißelten ihrerseits eigene Fußabdrücke auf noch freie Plätzchen oder umrandeten die Konturen ihrer Füße oder Schuhe mit einem Stift.
Als der heilige Wolfgang, so erzählt die Legende, an einem Sonntagmorgen einmal verschlafen hatte, trat er, zornig auf sich selbst, ins Freie und machte sich Luft, indem er den sündigen Teil seines Leibes, seinen Fuß, heftig gegen einen Felsen stieß, eine Entladung von Lasterhaftem, für die Gott scheint's Verständnis zeigte: Er machte rasch den Felsen weich wie Teig, und noch heute kann man so den Fußabdruck des wütenden Heiligen dort als Beweis anschauen.
Ähnliche Erscheinungen zeigen sich auf Felsenbildern in Skandinavien und in den Ligurischen Alpen sowie in englischen und französischen Megalithanlagen. Ist es da ein Wunder, dass an Fuß und Schuh Wunderbares und Überirdisches haftet? Menschliches Fühlen, Denken, Phantasieren und Produzieren hat stets und vielfältig die Füße oder auch die Schuhe zum Gegenstand gemacht. Im antiken Götterhimmel wimmelt es nur so von orthopädischen Kuriositäten, von missgestalteten Füßen, sogar Tierfüßen, von Drei- und Vierbeinern.
In den Märchen der unterschiedlichen Kulturen dieser Welt, empfindsam gegenüber allem Symbolhaften, gehören Füße und Schuhe zu einem oft variierten Bestand, so etwa bei Aschenputtel oder in einem türkischen Volksmärchen, wo ein Mädchen beobachtet, wie sich eine Katze in einen Prinzen verwandelt. Das Mädchen nimmt vom Ort des Geschehens einen Schuh des Prinzen mit, zeigt ihn später der Katze, aus der daraufhin endgültig ein Mensch entsteht. Zauberstiefel, Siebenmeilenstiefel, gläserne und eiserne Schuhe zählen zu den Requisiten vieler Märchen.
Was die rechtlich-politische Seite betrifft, so lassen sich auch hier Beispiele finden. So kann man am Rathaus in Solferino eine bronzene Tafel mit einem Fußabdruck betrachten. Dieser gehört Napoleon III., der 1857 seinen Fuß auf die Provinz setzte mit der erklärten Absicht, sie fruchtbar zu machen.
Der Schuh gilt aber auch als Rechtssymbol beim Verlöbnis und bei Adoptionen – dort als Symbol für den Zeugungsakt! –, bei Unterwerfungen oder beim Aufheben von Gut und Erbe. Bekannt ist auch der Bundschuh, ein signifikantes heraldisches Emblem einer badischen Aufstandsbewegung. Viel zitiert wird auch der Fußtritt als Rechtsgebärde bei der Belehrung von Vasallen, eingesetzt wurde der Fuß auch als Ackermaß, sein Abdruck gilt oft als Grenzzeichen.
Wie könnte es da anders sein, als dass Fuß und Schuh sich im Brauchtum auch auf die wichtigsten Stationen des menschlichen Lebenslaufes beziehen. Seit dem 19. Jahrhundert kommt das Motiv der ersten Schuhanprobe in der Malerei vermehrt vor. Auf einer beliebten spanischen Weihnachtskarte probiert der heilige Josef dem Jesuskind seine ersten Schuhe an. Bereits im 18. Jahrhundert war in Frankreich die Aufbewahrung der ersten Schuhe die Regel, weil – so der Volksglaube – sonst die Kinder nicht gedeihen könnten. Feierliche Akte konnten das Anlegen der Erstschuhe begleiten, und seit der Erfindung der Galvanoplastik werden diese Babyschuhe manchmal versilbert und als Familienreliquie aufbewahrt, eine Sitte, für die noch heute eine Schweizer Firma wirbt.
Ihren Höhepunkt jedoch erreicht die Symbolkraft des Schuhs in Bezug auf Hochzeiten. Rechtliche, magische und aphrodisische Vorstellungen treffen da zusammen, wenn der Bräutigam seiner Zukünftigen die meist kunstvoll hergestellten Schuhe über den Fuß streift, die dann ehelang aufgehoben und geschätzt wurden. In Amerika dagegen werden Schuhe oft zusammen mit Blechbüchsen an der hinteren Stoßstange der Hochzeitslimousine befestigt.
Schließlich hatten und haben Schuhe auch eine funerale Bedeutung: Dem Grab des Tut-ench-Amun waren Schuhe beigegeben, später wurden besonders in Etrurien und England den Toten Schuhe für ihre weite Reise beigelegt. Noch heute stellen in einigen Regionen Siziliens die Bewohner in der Nacht vor Allerseelen ihre Schuhe vor die Türe, in dem Glauben, die verstorbenen Angehörigen könnten in diese Schuhe ein Geschenk legen.
Schuhe wurden sogar zur Wahrheitsfindung eingesetzt: In der Wallfahrtskirche Bogenberg etwa befindet sich ein „Gewissensmesser“, ein hölzerner Schuh, der sich an einer Stange dreht. Er muss mindestens dreimal kreisen, soll der Schwinger frei von Todsünde sein. Im gleichen Sinn wurde dem Schuhwerfen mancherorts eine Orakelfunktion mit unterschiedlichen Bedeutungen zugeschrieben.
Auf die sinnlich-lasterhafte, ja sündige Seite der Füße hatten bereits das Schicksal des Achilles und die Gewissensrufe der Kirchenväter verwiesen. Sigmund Freud, aufgeklärt, analysiert: „Der Fuß ist ein uraltes sexuelles Symbol [...] der Schuh oder Pantoffel Symbol des weiblichen Genitals."18 Aber die Frage, wie sich Füße und Sexualität zueinander verhalten, ist heikel. Denn wenn man das Erotische weit genug fasst – als das lustbegabte Prinzip, das Leben hervorbringt und Verbindung schafft – dann lässt sich letztlich alles Menschliche darauf beziehen. Doch liegen Beispiele perverser Formen der Sexualität vor, die eine deutlich enge Verknüpfung mit den menschlichen Füßen aufzeigen. Und wenn auch moderne Sexualtheorien19 auf eine strenge Grenzziehung zwischen normal und pervers verzichten, vielmehr auf fließende Übergänge verweisen, so ist der folgende Fall ganz gewiss nicht dem breiten Mittelfeld der Normalität zugehörig:
Neunhundert Jahre lang, bis zur ersten Phase der Republik, erzwang sich die männliche Oberschicht in China von ihren Frauen eine absurde Form erotischer Lust20: Um diesen Sadismus zu organisieren, wurden die vier kleinen Zehen fünfjähriger Mädchen gewaltsam nach innen gebogen und mit einer fünf Meter langen Binde umwickelt. Im Laufe der Zeit wuchsen so die Zehen fast bis in die Fußsohlen hinein, begleitet von qualvollen Schmerzen, welche die Mädchen und später die verkrüppelten Frauen ein Leben lang auszuhalten hatten. Durch jenes Fußwickeln, das selten ohne Prügelstrafe durchgesetzt werden konnte, ließ sich der Fuß um ein Drittel seiner normalen Länge verkürzen, so dass er dauerhaft das Schönheitsideal eines 7,5 cm langen „Lotosfußes“ behielt. Während ihrer körperlichen Entwicklung wurden die Mädchen dazu vierzehntägig in immer kleinere Schuhe gezwungen.
Frauen mit Lotosfüßen waren gewaltsam verkrüppelt: Sie konnten nicht davonlaufen. Sie blieben weitgehend arbeitsunfähig und konnten somit auch nicht selbständig leben. Ihr durch die Behinderung wiegender, künstlicher Gang beanspruchte und verstärkte ihre Hüft- und Gesäßmuskeln und dies stimulierte die Männer. Die dauernde Anspannung des Unterleibes trainierte ebenso die Muskulatur der Vagina und brachte zum Lustgewinn der Männer im Genitalbereich sonderbare Falten hervor. Prostituierte mit Lotosfüßen waren begehrt. Aus ihren verbogenen, weich-kraftlosen Füßchen ließ sich die Form einer Vagina bilden. Was die zerschundene Ehefrau mit Lotosfüßen betrifft, so bestand ihr Lebensinhalt in der erotischen Befriedigung ihres Gatten – der Sexismus dieser Gesellschaftsschicht gestattete solch quälerische Spiele ohne weiteres.
Ein derartiger Frevel am Frauenfuß erschreckt: Abgesehen vom Verbrechen des sexuellen Missbrauchs wird durch den aktiven Raub der Füße eine Verstümmelung des ganzen Menschen herbeigeführt. Von einer dieser chinesischen Frauen mit Lotosfüßen ist zu lesen, sie sei vor dem Füßebinden ein quirliges Mädchen gewesen, das wie alle Kinder fröhlich herumgesprungen sei; fußlos aber sei ihre freie optimistische Natur völlig zerstört worden21.
Schon Kinder laufen weg, wenn sie Angst verspüren, und eilen zu etwas hin, das sie lockt. Diesen elementaren Ausdruck von Vermeidung und Annäherung verdanken sie gesunden Füßen. Spontane Mobilität ist ein unentbehrlicher Baustein menschlicher Freiheit. Verstanden wird dies vielleicht am besten von jenen Menschen, die durch Krankheit, Unfall oder Behinderung auf sicheren Stand und freies Gehen verzichten müssen und auf andere Formen der Fortbewegung angewiesen sind.
China ist weit, jene Lotosfüße ein traurig-schreckliches Dokument vergangener Geschichte. Und doch: Das beliebte deutsche Märchen vom Aschenputtel wurde erstmals vor etwa 1.000 Jahren in China erzählt. Da entflammt ein recht eigenartiger Prinz für ein Mädchen – nein, das Mädchen spielt eigentlich keine Rolle, sondern dessen kleiner Fuß. Seine Schwestern, mit großen Füßen belastet, wollen um alles in der Welt Königin werden und verstümmeln ihre Füße: Die eine hackt sich die Ferse ab, die andere den großen Zeh. Fast wäre alles gut gegangen, wenn das Blut, das aus dem Schuh floss, die Täuschung nicht verraten hätte. Aschenputtel mit den kleinen zierlichen Füßen, eine ansonsten Unbekannte, wird ins Schloss geführt, wo sie fortan auf kleinem Fuße lebt. Berühmt wurden psychoanalytische Interpretationen dieses Märchens, etwa die aus der Feder Bruno Bettelheims22, welche dem Prinzen, der einem Fußfetischismus verfallen ist, eine deutliche Kastrationsangst vorwerfen. Der von Eros besetzte Fuß wandert also – in Geschichten versteckt – weiter. So schreibt zum Beispiel August Strindberg im Plädoyer eines Irren: „Plötzlich senkte ich meinen müden Blick auf den Fußboden und entdeckte unter dem Tischtuch [...] ein hinreißendes Bein [...] und dann der bogenförmig gewölbte Fuß mit hohen schlanken Fesseln, der in einem Aschenputtel-Schuh steckte."23
In den Bereich des Anständigen gehört noch das Füßeln – wenn es auch Mephistopheles ist, den Goethe hämisch sagen lässt „Bei Tafel schwelgend füßle mit dem Lieben."24 Ein argloses Spiel: Außerhalb des Blickfeldes begegnen sich die Füße der Liebenden und kommunizieren miteinander.
Delikater ist vielleicht das Fußkitzeln – womit nicht solch furchtbare Folter gemeint ist, bei der die Fußsohlen eines Gefesselten mit Salz bestreut und Tiere gereizt wurden, daran zu lecken. Gemeint ist auch nicht jene Handlung, die, nicht ganz frei von Aggression, durch Kitzeln der Fußsohlen ein lautes Lachen erzwingt. Nein, lieber möchte ich an ein sanftes erotisches Zärtlichsein erinnern, an ein wohlgemeintes dosiertes Streicheln der zahlreichen Nervenendigungen an den Fußsohlen, dessen aphrodisische Dimension von manchen durchaus dann und wann im Verlauf der Liebesspiele geschätzt wird.
Eine andere Weise, erotische Verbindung aufzunehmen, geht über die Nase: Olfaktorische Empfindungen, Geruchsempfindungen, zählen phylogenetisch zu den ältesten und sind mit Gefühlserregungen eng verknüpft. Zugegeben, der Fußschweiß kann belästigen, wenn die Füße in Kunststoff laufen müssen; aber in ihrem freien Zustand produzieren die äußerst dicht angeordneten Fußschweißdrüsen die gleichen Duftstoffe, die auch der sexuellen Annäherung dienen.
In einigen wissenschaftlichen Arbeiten wird in diesem Zusammenhang an die frühe Entwicklung des Säuglings und Kleinkindes erinnert. Der Säugling spielt mit seinen Füßchen, nuckelt am großen Zeh. Das krabbelnde Kind am Boden riecht Füße und Beine der Eltern, die es liebt: Sind es solch frühe Erfahrungen auf dem Wege der Lerngeschichte, welche die Füße mit einem erotischen Affekt verknüpfen? Möglich, dass vielleicht die meisten diesen Zusammenhang vergessen haben, bei anderen mag er zart und zurückhaltend bis ins Erwachsenenalter fortbestehen; bei den relativ seltenen Fußfetischisten, es handelt sich meist um Männer, könnten solche ersten Erfahrungen zusammen mit anderen problematischen Erlebnissen eine pathologische Entwicklung einleiten. Der Stand der Forschung ist in diesem Punkt noch nicht gefestigt.
Mühsam muss der Säugling lernen, sich aufzurichten, zu stehen und zu gehen. Anders in der Tierwelt: Je früher ein Tier dank seines angeborenen Schreitreflexes in der Lage ist zu stehen und zu gehen, desto begrenzter und organgebundener ist sein Verhaltensinventar. Der Mensch dagegen wird gezwungen, in kleinen Lernschritten den Raum zu erobern, die hierfür notwendigen Eigenschaften zu fördern und zu schulen, aber er gewinnt dadurch einen differenzierteren Spielraum als das Tier – und damit größere Freiheit.
Im zweiten bis dritten Monat hebt der Säugling auf dem Bauch liegend frei sein Köpfchen; bald kann er den Oberkörper mit ausgestreckten Armen stützen; mit den Zehen drückt er den Körper ab: Er rutscht nach vorn. In der Folge muss er fleißig arbeiten, um in unterschiedliche Richtungen kriechend und krabbelnd seinen unmittelbaren Lebensraum zu erkunden. Diese Orientierungserfahrungen führen ihn allmählich zu Gelegenheiten, das Aufrichten zu probieren. Auch wenn von Seiten der Eltern Hilfen gegeben werden, ist es eine eigenständige Leistung des kleinen Menschen, in seinem Aufrichtetraining zu versuchen, die erste Stufe einer Treppe zu erklimmen und bald darauf schon sich an einem Schrank oder Stuhl hochzuziehen. Nun steht er. Es kann passieren, dass er sich ohne fremde Hilfe nicht wieder hinsetzen kann – aber er steht, meist schon vor Vollendung des ersten Lebensjahres. Füße und Beine haben eine erste Entwicklungsaufgabe bewältigt. Spätestens von jetzt an werden sie als integrierter Bestandteil des eigenen Körpers erlebt und lassen sich von anderen meist nicht mehr ohne Abwehr berühren.25
Stehen ist eine fulminante menschliche Leistung. Die Hände sind frei, während die kleinen, etwa sieben Zentimeter langen Füßchen vielfältig-emsig in Tätigkeit sind. Ihre Hauptaufgabe besteht in einem ständigen Balancieren. Jeden Augenblick gehen unbemerkt tausende Signale von den Füßen aus, die ein kompliziertes Muskelspiel auslösen, um das Gleichgewicht zu halten. Eine den menschlichen Proportionen nachgebildete Puppe könnte nicht stehen. Eine wesentliche Voraussetzung für diese Balanceleistung hat sich in der menschlichen Evolution allmählich herausgebildet: Der große Zeh verlor seine Eigenständigkeit und wurde durch ein querlaufendes Mittelfußband zur Kooperation mit den kleineren Zehen gezwungen.
Eigenartig scheint es deshalb, dass das Stehen für die Mehrheit der Menschen ein Problem ist. Körperorientierte Therapien wissen darum. In der Bioenergetik wird deshalb als eine grundständige Übung das Grounding geübt, das Geerdet- und Gegründet-Sein. Nach Alexander Lowen26 bestimmt die Qualität des Kontaktes zwischen den Füßen und dem Boden, wie gegründet ein Mensch ist, ob seine Füße nämlich fest verwurzelt sind, oder ob er in den Wolken schwebt, ob er auf eigenen Füßen steht oder abhängig ist und der Unterstützung durch andere bedarf. Wer festen Boden unter den Füßen hat, so Lowen, könne nicht gehemmt, auch nicht verklemmt sein. Wer nicht wisse, wie er stehe, wisse auch nicht, wo er stehe und habe keinen festen Stand. Wer ohne bewussten Bodenkontakt dahinlebe, leide nicht nur unter chronischen Muskelverspannungen, sondern er erreiche auch keine produktive Selbsteinschätzung. So gehört es denn zu den Hauptstücken dieser Therapien, sich seiner Füße und ihres Kontaktes zur Erde, der Mutter, bewusst zu werden, sich zu erden. Selbst im Traum, so erkannte Carl Gustav Jung27, ist es das Bild der Füße, das die Beziehung zur Wirklichkeit herstellt. Und was heißt das für das Stehen auf den eigenen Füßen? Das Körpergewicht sollte ausgewogen auf Ferse, Kleinzehballen und Großzehballen verteilt sein. Einseitige Verlagerungen auf Fußballen oder Ferse beeinflussen nicht nur die gesamte Körperarchitektur, sondern verweisen auch auf psychische Auffälligkeiten: Wer sich angewöhnt hat, in der Hauptsache die Fußballen zu belasten, weist häufiger aggressives Verhalten auf. Psychotische Kinder trippeln fast pausenlos und vermeiden das natürliche Balancieren.
In suchenden, verunsicherten Phasen der Pubertät fällt uns das sichere Stehen noch schwerer. Stand- und Spielbein wechseln unruhig, der Bodenkontakt ist reduziert. Der gesunde Mensch übt sich darin, auf seine Füße zu schauen, ihre Struktur und Funktionen zu begreifen und in Anspruch zu nehmen, die jeweilige Bodenbeschaffenheit wahrzunehmen und sensibel zu reagieren: auf beiden Beinen mit gleichmäßig verteiltem Gewicht, sicher, nicht starr, sondern beweglich, sich stets neu orientierend. In einem festen Stand verschafft sich der Wille zur Selbstbehauptung Ausdruck. Abbildungen von Heinrich VIII. von England belegen, dass er Gelegenheit hatte, angesichts zahlreicher Herausforderungen und Bedrohungen einen festen Stand zu erproben.
Wer steht, befindet sich im Einflussbereich der Erdanziehung. Man kann sich sogar eine Linie denken, die Schwerkraftlinie, die in idealem Fall vom eigenen Scheitel und zwischen den Füßen hindurch zum Erdmittelpunkt läuft. Der menschliche Körper ist ein Bauwerk, das von einem verhältnismäßig kleinen Fundament, den Füßen, getragen wird. Ist beim Stehen die Schwerkraftlinie ungestört, dann wird das Erlebnis erfahrbar, von Kopf bis Fuß eine Ganzheit darzustellen. Das Gewicht des Körpers wird nahezu an den Boden abgegeben28.
Die Ökonomie des Stehens wird jedoch häufig durch Verkrampfungen gestört. Wer schief oder auf unsicheren Beinen steht, bedarf zusätzlicher Aktionen, damit er nicht umfällt: Er stützt sich mit der Hand auf einen Tisch, krallt die Zehen, als wollten sie im Boden Halt finden, und selbst die Augen suchen Sicherheit. Ganze Muskelbereiche müssen arbeiten, um einen falschen, der Schwerkraft gegenläufigen Stand auszugleichen. Es ist ein beklagenswerter Zustand, wenn ein Individuum auf schwachen, wackeligen Beinen steht, beim Stehen ein Fußgelenk einknickt, sich auf seinen Fußkanten aufstützt oder die Füße zu dicht nebeneinander platziert.
Archimedes soll gesagt haben: „Gebt mir einen Platz, wo ich stehen kann, und ich werde die Welt aus den Angeln heben."29 Jener Philosoph der Antike suchte wohl nach einem alternativen, einem besonderen Standort. Diesen zu entdecken, hätte seinem Vorhaben jedoch wenig genutzt, wäre er auf ihm nur unruhig hin und her getrippelt.
Menschen stehen im Allgemeinen nicht gern. Sitzen wird vorgezogen. Stehplätze sind billiger. Längeres Stehen, wird beklagt, sei anstrengend und mache müde. Und wohin beim Stehen mit den Händen? Stehen kann belastend sein: Der im Unterricht störende Schüler muss vielleicht zur Strafe aufstehen. Er hört oft: „Steh doch aufrecht!" Die Sitzhaltung nivelliert, denn wenn der Mensch steht, wird ein Vergleich möglich, und er findet sich größer oder kleiner als die anderen. Stehen schließt ein mögliches vergleichendes Gegenüberstellen ein. Um dabei nicht aufzufallen, macht sich der eine größer und ein anderer fällt in schlechter Haltung in sich zusammen, um kleiner zu erscheinen.
Bei Begrüßungen stehen viele gewöhnlich auf, stehen auch vor dem Richter und melden sich in einer Versammlung stehend zu Wort. Zahlreiche und unterschiedliche Motive veranlassen den Menschen zu stehen: Ob aus Achtung, Ehrfurcht, Unterwürfigkeit oder Höflichkeit – doch ein Motiv steht ganz im Vordergrund: Ein Mensch hat sich nach schweren inneren Kämpfen entschieden. Er steht auf, frei, sich seiner selbst bewusst – und geht.
Gehen sei ein ständig aufgefangener Fall, sagt Hugo Kükelhaus, doch so, dass das Abwärts dem Aufwärts symmetrisch innewohne; wie bei einer Pendelbewegung werde die unstete Bewegungsform zu einer stetig und rhythmisch schwingenden30:
Die Ferse löst sich vom Boden, und in diesem Augenblick wird das Körpergewicht an den Ballen des großen Zehs abgegeben. Ein kleines Stück rollt der Fuß nach vorn, bis die dickliche Kuppe des großen Zehs erreicht ist, dessen Spitze sich jetzt vom Erdboden abhebt. Der Fuß beschreibt einen flachen Bogen in der freien Luft, befreit vom Körpergewicht, bis er, einen Fortschritt erstrebend, wieder den Boden erreicht. Nun folgt der gleiche rückläufige Prozess der Druckübertragung auf der Außenseite der Fußsohle, von der großen Zehe bis zur Ferse31.
Auf- und Abtrieb, rhythmisch, Belastung und Entlastung – dieses System ergibt sich aus dem menschlichen Ablauf. Um Hindernisse zu übergehen, musste das Schreiten eingeübt werden – sich für einen Moment über etwas fallen zu lassen und dieses Fallen aufzufangen.
Der Fuß ist ein sensibles Organ, das sich auf den jeweiligen Untergrund und die Statik des Körpers einstellen kann. Seine akrobatische Beweglichkeit verdankt er unter anderem der Konstruktion des menschlichen Skeletts. Auf- und Abwärtsbewegungen des Gehens leistet ein Scharniergelenk; das obere Sprunggelenk nämlich, das auf dem Fersenbein arbeitet, lässt vielfältigere Bewegungen zu, es kantet etwa den Fuß ein- und auswärts.
Die Fußsohle lässt einen dreiteiligen Aufbau erkennen: die Knochen der Fußwurzel, die des Mittelfußes und die Zehenknochen. Längs der Ferse bis zu den Zehen kann man sich – etwa in der Mitte – eine Linie denken, die einen inneren Stützstrahl, auf dem das Hauptgewicht des Körpers ruht, von einem äußeren trennt. Dieser ist in der Hauptsache für das Balancieren zuständig. Aber entscheidend für die mechanische Höchstleistung sind die federnden Fußgewölbe: ein hohes Längsgewölbe im Innenteil, ein zweites flachbogiges längs der Außenkante des Fußes, ein drittes wölbt die Fußsohle quer von innen nach außen.
Vermittelt durch die emsige Arbeit der Nervenzellen verdankt der Fuß seine Leistungsfähigkeit den Muskeln und Bändern aus straffem Bindegewebe. Mit ihrer hohen Zugfestigkeit überziehen sie die Fußknochen und halten sie zusammen, verhindern Verschiebungen oder Einsenkungen und ermöglichen ein kompliziertes und anstrengendes Bewegungsspiel.
Eine besondere Qualität des Fußes liegt in seiner stoßdämpfenden Funktion. Im Laufe eines Durchschnittslebens prallt die Ferse eines Menschen wohl zehn Millionen Mal auf dem Boden auf. Wie viele Male hielt wohl dieser Globus bisher die Stöße seiner Bewohner aus seit die ersten Menschen im Diluvium aufrecht auf ihm gingen? Haben sie diese Erde nicht inzwischen ein wenig kleiner getreten und ihre Masse verdichtet?
Was nun die individuelle Seite des Auftretens eines jeden Menschen betrifft, so würde ohne die stoßdämpfende Wirkung der Fußgewölbe die Wirbelsäule Schaden erleiden. Doch diese Fußgewölbe sind bei vielen Menschen beeinträchtigt: durch einen Hohlfuß (eine zu starke Krümmung des Längsgewölbes), durch einen Plattfuß, bei dem die längsverlaufende Brücke eingesunken ist, oder durch einen Spreizfuß, dem die Querwölbung fehlt.
Jede Veränderung im Bereich der Füße wirkt sich auf den ganzen Körper aus: Dreht man seinen Fuß zum Beispiel geringfügig nach außen, schon werden Knie- und Hüftgelenke mitbewegt, setzen doch zahlreiche Fußmuskeln im Unterschenkel an. Immer ist dabei von Bedeutung, welche Teile der Fußsohle Bodenkontakt unterhalten. Standfestigkeit garantiert allein der bewegliche Austausch, das ständige, kaum zu bemerkende Spiel des Grounding, die schier ewige dialogische Erneuerung des Bodenkontaktes.
Aus dem großen Vorrat des Wissens über das Gehen soll noch ein Aspekt ausgewählt werden, der den ehrwürdigen zweiten Zeh betrifft. Er überragt meist seinen großen Nachbarn und das mit purer Absicht: denn beim Gehen vermittelt dieser kleine Kerl Vorwärts-Impulse. Indem er die Mitte der beiden Auflagepunkte findet, trägt er dazu bei, stets das Gleichgewicht herzustellen. Dieser zweite Zeh folgt mit der eigenständigen Aufgabe eines fleißigen Fühlers durchaus den Bewegungen des großen Zehs. Vielleicht spielt auch sein Abstand zum großen Zeh eine Rolle für den menschlichen Charakter: Manche Forscher behaupten, bei Menschen mit einem größeren Zwischenraum träten verstärkt Jähzorn und Impulsivität auf.
Einen gewichtigen Forschungsschwerpunkt fand die Psychologie in Untersuchungen der menschlichen Gangarten oder Gangtypen32. Ein solches Ausdrucksverhalten ist, wie auch in anderen Bereichen, immer mehrdeutig. Das wirkliche Leben folgt selten der simplen Formel 'was innen, das außen'. Trotz dieser Einschränkung lassen sich Korrelationen benennen, überzufällige Zusammenhänge zwischen der Art zu gehen und menschlichen Eigenschaften – natürlich vorausgesetzt, dass nicht eine leichte oder gar gravierende Gehbehinderung die Fortbewegungsweise eines Menschen beeinflusst.
Auf vieles ist bei Gehgewohnheiten zu achten: auf die Art der Federung, ob ein wippender oder steifer Gang vorherrscht; auf das Bewegungsbild: es kann rund sein, also ein An- und Abschwellen mit fließenden Übergängen, oder eckig, ruckhaft; auf Wiederholungsformen ist zu achten, etwa rhythmisch wiederkehrend oder ungleichmäßig auseinandergerissen; auf die Art der Wirkung des Körpergewichts, das die Beine entweder gleichsam in den Boden stampft oder eine freie eigenständige Bewegung der Füße zulässt; auf das Prinzip, wie ein Fuß aufsetzt – kraftvoll, kraftlos, gerade, nach außen, nach innen gerichtet, mit der Ferse, der Fußspitze oder der ganzen Sohle; der Akt des Loslösens lässt sich beobachten: ruckhaft, rollend, schleifend, zähflüssig. Man kann die Schwung- und Stützzeit ins Verhältnis setzen: Ist etwa die Schwungzeit groß, wirkt der Gang flüssig, beschwingt. Dauert die Stützzeit lange, folgen ruckhafte, eckige Verlaufsformen; vom Hochheben der Beine hängt es ab, ob ein Gang schleift oder steigt. Auch ist es wichtig, ob der Bewegungsansatz seinen Ausgang im Hüftgelenk, im Knie oder im Fußgelenk findet. Zudem spielt die Geschwindigkeit eine Rolle, weiterhin die Richtungsbestimmtheit, die entscheidet, ob ein Gang geradlinig, zick-zack, schlangenlinig oder großkurvig verläuft.
Schließlich können noch Mitbewegungen anderer Körperteile in Rechnung gestellt werden: Der Kopf last sich im Gehen vor- und zurückschwingen; die Schultern hochziehen, nach vorn oder zurückbewegen; die Arme pendeln, rhythmisch, arhythmisch oder werden still gehalten; der Rumpf mag sich beim Aufsetzen des rechten Fußes nach rechts hin drehen und wiederholt das gleiche beim Aufsetzen des linken Fußes nach links: in diesem Fall entsteht der Eindruck des Watschelns.
Selbst Geräusche, die das Gehen verursacht, geben ein brauchbares, differentialdiagnostisches Merkmal ab. Man hört ein Stampfen, Knallen oder Schlurfen und kann nach dem Grund solcher akustischen Signale forschen.
Diese Auflistung ist bei weitem nicht vollständig. Sind alle Kategorien einem wissenschaftlich geschulten Beobachter gegenwärtig, so lassen sich Gangtypologien herausfinden.
So ist den Forschern der Energie-Gang aufgefallen. Er soll einem Fußgänger gehören, der sich Schwierigkeiten gewachsen fühlt, ganz im Bewusstsein seiner Kompetenz und Verantwortung. Er geht ruhig und leger. Er zeigt einen Fersengang mit kleinen Schritten. Schultern und Hüften sind fest und nur wenig bewegt. Die Bewegung des Oberkörpers ist auf die Vertikalrichtung beschränkt. Nicht selten tritt beim Energie-Gang eine interessante Nuance auf: Bei jedem Schritt wird im Augenblick des Abstoßens eine minimale Pause eingeschaltet. Dann wird mit Schwung das Standbein hochgeschleudert und sogleich der ganze Körper in ungebrochener Hüft-Schulter-Linie auf das vorherige Standbein geschwungen.
Bei einem stark verklemmten, introvertierten Menschen werden dagegen die Beine ruckartig vorgeschleudert. Es entsteht ein steifer Gang mit einem stoßenden Schritt. Kopf und Hals werden streng hochgehalten, Schultern, Arme, Hüften und Oberkörper bleiben nahezu unbewegt.
Dass es sich beim Gehenden um eine weibliche Person handelt, erkennt man oft an Bewegungen, die nicht auf Kraft bedacht sind, eher grazil, mehr horizontal gerichtet; an Bewegungen, die eine Hüftbetonung vornehmen, ein Stimulus, der sich bis zu den Schultern fortsetzen kann.
Solche Typologien lassen sich verfeinern und empirisch überprüfen, bis eine exakte, differenzierte Beschreibung ein adäquates Bewegungsbild liefert. Das Prinzip aber, von der Figur des Gehenden, vom Sichtbaren her auf Seelisch-Geistiges zu schließen, wurde weit über die Psychologie hinaus zu einer erkenntnisreichen Metaphorik. Axel Gellhaus33 zum Beispiel hat darauf in einem originellen literaturwissenschaftlichen Beitrag aufmerksam gemacht. So reflektiert der Schriftsteller Thomas Bernhard in seinem 1971 veröffentlichten Essay Gehen über das schier untrennbare Verflochtensein von körperlicher und geistiger Bewegung. „Die Wissenschaft des Gehens", so konstatiert er, „und die Wissenschaft des Denkens sind im Grunde genommen eine einzige Wissenschaft."34 Wer einen Gehenden genau beobachtet, weiß auch, wie er denkt, so Bernhard. Und wer einen Denkenden genau beobachtet, weiß auch, wie er geht. „Ohne Spazieren wäre ich tot", schreibt Robert Walser, „und mein Beruf, den ich leidenschaftlich liebe, wäre vernichtet."35 Und im Roman Das einfache Leben beschreibt Ernst Wiechert nach seiner Leidenszeit im Lager Buchenwald einen gescheiterten Kriegshelden, der einen Richtungswechsel in seinem Leben herbeiführen will. Er geht und geht, und eines Tages erfährt er von einem Pfarrer, der ihn öfter durch die Straßen ziehen sah: „Wer viel geht, trifft seinen Engel."36
In der Tübinger Einleitung schreibt Ernst Bloch: „Schlecht wandern, das heißt als Mensch dabei unverändert bleiben. Ein solcher eben wechselt nur die Gegend, nicht auch sich selber an und mit ihr."37 Das gute Wandern ist eben ein Freund der Kreativität. Friedrich Nietzsche belegt das in seinem Zarathustra, dessen Entstehung direkt mit Wandern an bestimmten Orten verbunden ist: „Im Winter darauf, unter dem halkyonischen Himmel Nizzas", schreibt Nietzsche, „fand ich den dritten Zarathustra [...] Viele verborgne Flecke und Höhen aus der Landschaft Nizzas sind mir durch unvergessliche Augenblicke geweiht; jene entscheidende Partie, welche den Titel ,Von alten und neuen Tafeln' trägt, wurde im beschwerlichsten Aufsteigen von der Station zu dem wunderbaren maurischen Felsenneste Eza gedichtet, - die Muskel-Behendigkeit war bei mir immer am größten, wenn die schöpferische Kraft am reichsten floss."38 „Dort war's auch, wo ich das Wort ,Übermensch' vom Weg auflas..."39
Was ist das für ein Geheimnis, das die Füße tragen, die sich bewegen, die gehen und wandern?
In der griechischen Mythologie wird Hermes neben all seinen andern Ämtern auch als Gott des Wanderns und der Wege verehrt. Rilke gibt Hermes den Namen „Gott des Ganges".40 Platons Dialog Phaidon inszenieren Spaziergänger. Und für die Peripatetiker in der Nachfolge des Aristoteles fiel der Fußweg gleichsam mit dem Denkweg zusammen – so formulierte es Axel Gellhaus41: Früh also bestimmte die Bewegung des Gehens das menschliche Bewusstsein, verschaffte sich eine eigene Sprache: Von 'Gedankengängen' ist die Rede oder von 'Argumentationsschritten'. Nicht selten begegnet einem Psychologisches, das vom Fuße ausgeht: Das Gleichmaß von Umgebung, Welt, Wahrnehmung und Bewegung. Bewegungen schärfen die Sinne, steigern die Urteilsfähigkeit, verfeinern das Bewusstsein. Ob etwa ein Gewicht in der linken Hand schwerer ist als ein ähnliches in der rechten, vermag ich während der Ruhestellung der Hände nicht zu entscheiden, wohl aber dann, wenn sie auf- und abbewegt werden. Diese durch die Bewegung der Hände erzielte Verbesserung der Urteilsfähigkeit ist allseits bekannt.
An der Universität zu Köln habe ich mit Studenten Versuche zu visuellen Leistungen in Abhängigkeit vom Bewegungszustand während des Gehens durchgeführt. Dabei zeigte sich eindeutig, dass die Unterscheidungsfähigkeit der Augen während des Gehens entschieden besser ist als im Ruhezustand. Wenn ich stehe, kann ich zwei kleine Punkte, die einige Meter von mir entfernt angebracht sind, nur als einen einzigen Reiz erkennen – sie verschmelzen. Während eines natürlichen Ganges aber werden sie als zwei getrennte Punkte sichtbar, obwohl der Abstand zur Versuchsperson konstant bleibt. Und es sind im wirklichen Leben eben nicht nur zwei Punkte, die sich dem Spaziergänger, dem Flaneur, dem Gehenden erschließen.
Stehen übt selbstbewusste Eigenständigkeit, Gehen Unabhängigkeit und Freiheit, das Tanzen schließlich gestaltet das ganze Geschenk der Beweglichkeit. Loslösen möchte die Tänzer ein Walzer im Dreivierteltakt: Anders als beim Gehen schwingen die Schritte, runden sanft das Erheben, Senken und Drehen. Füße können Noten lesen.
Dichter, systematischer lässt sich wohl kaum das Geschenk des Tanzes zum Ausdruck bringen als durch ein altes Vermächtnis an die Tänzer:
Ich lobe den Tanz, denn er befreit den Menschen von der Schwere der Dinge, bindet den Vereinzelten zu Gemeinschaft. Ich lobe den Tanz, der alles fordert und fördert, Gesundheit und klaren Geist und eine beschwingte Seele. Tanz ist Verwandlung des Raumes, der Zeit, des Menschen, der dauernd in Gefahr ist zu zerfallen, ganz Hirn, Wille oder Gefühl zu werden. Der Tanz dagegen fordert den ganzen Menschen, der in seiner Mitte verankert ist, der nicht besessen ist von der Begehrlichkeit nach Menschen und Dingen und von der Dämonie der Verlassenheit im eigenen Ich. Der Tanz fordert den befreiten, den schwingenden Menschen im Gleichgewicht aller Kräfte. Ich lobe den Tanz.
Oh Mensch, lerne tanzen! Sonst wissen die Engel im Himmel nichts mit dir anzufangen.42
Ob dieses Lob auch für Tänze zu Technobeats gilt? Dort schlägt laut ein greller Rhythmus und reizt eine trotzende Willenskraft. Der dumpf dröhnende Bass zwingt sogar das menschliche Herz, in seinem schnellen Takt zu schlagen. Der Mensch verliert sich in einsamen Bewegungen zu einer endlosen Spirale von Wiederholungen einer Minimalmelodie, er zieht sich in sich selbst zurück. Tanzschritte erziehen Tänzer!43
Das trifft auch auf Fußballer zu. Millionen widmen sich begeistert diesem Massensport – oft nur auf passive Art, indem sie vierundvierzig trainierte Männerfüße verfolgen, die mit einem Ball gleichsam jonglieren und damit die Zuschauer oft in höchste Erregung versetzen, bei ihnen Glücksgefühle hervorrufen oder sie in tiefe Verzweiflung stürzen. Diese Fußkunst hochbezahlter Experten wird auf einem abgegrenzten Raum in zugemessener Zeit dargeboten. Gearbeitet wird nach einem vereinfachten Modell der Leistungsgesellschaft, mit dem sich die Fans identifizieren. Was die Füße erreichen, ist leicht quantifizierbar. Die Regeln, denen sie folgen müssen, sind für jeden überschaubar, allseits bekannt und werden akzeptiert. Sie müssen unter der Kontrolle der Beobachter und eines Richters mit Trillerpfeife eingehalten werden. Für Gerechtigkeit wird Sorge getragen, Übertretungen werden bestraft. Der offene Ausgang des Spiels, verstärkt durch lokalpatriotische oder nationale Gefühle, reizt das Publikum meist zu äußerster Spannung und aufbrausenden emotionalen Reaktionen. Affekte und Triebe werden reguliert, aber keineswegs verboten. Bei Länderspielen oder Meisterschaften kämpfen Füße für ihr Land. Die Medien bereiten das Spektakel auf und kommentieren es im Rückblick: Welche Huldigung der Füße, die das wohl älteste mystische Spielzeug treten: den Ball, einen Körper mit vollendeter Form und maximaler Beweglichkeit.44
Was im Fußball geschieht, ist psychologisch aufschlussreich und regt zu Deutungen an: Jener Teil des Körpers, in dem Energie und Willenskraft sich konzentrieren, die Füße, stoßen virtuos eine Kugel, und zwar mit verdeckter Aggression. Ein männlicher Kampf wird dargeboten, in dem nicht der Gegner einen Fußtritt erhält, sondern gleichsam stellvertretend der Ball. Ob deshalb Handball und andere Sportarten bei weitem nicht jene Popularität erreichen wie der Fußball?
Ein früher Kritiker des Fußballs, Karl Planck, erhob 1898 in einer Schrift gegen die 'Fußlümmelei' seine Stimme. Planck erinnerte an Schiller: Das Schönheitsideal eines Menschen erkenne man daran, auf welche Art und Weise er seinen Spieltrieb befriedige. Worin liege aber nun das Schönheitsideal der Fußballhelden? Das Stauchen, der Fußtritt, der ganz gemeine Hundstritt sei es, der den Ausschlag gebe und über das Spiel entscheide. Wenn man auch kurzfristig sich über die 'Fußlümmler' erregen oder gar erbauen lasse, so werde man letztlich doch immer wieder verärgert, erzürnt– und beleidigt.
Die Spieler selbst sehen dies wohl anders. Einer unter den Fußballstars, Diego Maradonna, sinnierte einmal: „Was wäre ich ohne meine Füße?" Daraufhin habe er zärtlich auf sie hingedeutet und sich Luft gemacht: „Ihnen verdanke ich alles, alles!"45 Das heißt wohl, dass es geraten ist, seine Füße aufzuwecken und mit ihnen ein neues Erfahrungsfeld zu beschreiten. Denn menschliche Organ- und Wahrnehmungsfunktionen stehen nur dann zur Verfügung, so lehrt Hugo Kükelhaus, wenn sie entwickelt, herausgefordert werden: „Wer seine Sinneswahrnehmungen in Anspruch nimmt, erfrischt sich und baut auf."46
Es geht um bewusste Achtung vor einem vergessenen Teil des eigenen Leibes. Es geht also um einen eigenen, guten Bodenkontakt, eine Verbindung zur Erde, es geht darum, sensibel zu reagieren, fest zu stehen und sicher zu gehen.
Das wäre eine metaphora vom Leib zum Geist. Gesucht sind Menschen, die wie Martin Luther von sich sagen: „Hier stehe ich und kann nicht anders." Gesucht sind Menschen, die selbständig denken, die innere Freiheit anstreben und damit das Höchste, das die Anthropologie zu bieten hat: das Ideal der Autonomie. Gesucht sind Menschen, die mit Verantwortung einschreiten: für sich selbst, für andere, für die Welt.
Wirklich zu gehen, heißt, um eine Richtung zu wissen.
Gesucht sind die Menschen mit dem „aufrechten Gang“ (E. Bloch), der die leichten und schweren Stöße des meist überreizten Alltags dämpft und überführt in jene schwingende Bewegung, die Leben heißt. Heiter soll der Mensch Raum um Raum durchschreiten, ermutigt der Dichter; doch wenn es dabei irgendwo krankt, so empfehle ich – als einen ersten Schritt – die Gedanken von Joachim Ringelnatz über seine Schuhsohlen47:
Sie waren mir immer nah,
Obwohl ich sie selten sah,
Die Sohlen meiner Schuhe.
Sie waren meinen Fußsohlen hold.
An ihnen klebte ewige Unruhe,
Und Dreck und Blut und vielleicht sogar Gold.
Sie haben sich aufgerieben
Für mich und sahen so selten das Licht.
Wer seine Sohlen nicht lieben
Kann, liebt auch die Seelen nicht.
Mir ist seit einigen Tagen
Das Herz so schwer.
Ich muss meine Sohlen zum Schuster tragen,
Sonst tragen sie mich nicht mehr.
©Johannes Wickert, Zitieren nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Autors gestattet
1 D'Artis, Jean. Pedis Admiranda. Paris 1619. Übersetzt aus dem Lateinischen von K.-H. Graf von Rothenburg. Bielefeld 1994
2 vgl. Wex, Marianne. „Weibliche" und „männliche" Körpersprache als Folge patriarchalischer Machtverhältnisse. Frankfurt/Main 19802
3 vgl. Baselitz, Georg. Der Weg der Erfindung. Frankfurt/Main 1988
4 vgl. hierzu: Gries, Hildegard. Die Darstellung der Fußwaschung Christi in den Kunstwerken des 4. - 12 . Jahrhunderts. Rom 1962
5 vgl. Augustinus' Kommentar zum Johannes-Evangelium. In: Specht, Th. Bibliothek der Kirchenväter. Bd. 19, München 1914
6 vgl. hierzu: Lieske, A. Die Theologie der Logosmystik bei Origines. 1938
7 vgl. Gries a.a. O., Kap. 1
8 vgl. hierzu: Schleidt, Christiane Hede. Füße und Psyche. Diss. Universität Salzburg 1983
9 vgl. Jens, Walter. Der Fall des Judas. Stuttgart 19926
10 vgl. Till, Wolfgang. Schuh- und fußförmige Anhänger und Amulette. München 1971
11 vgl. Oppenheimer, Ph. Symbolik und religiöse Wertung des Mönchskleides im Christlichen Altertum. 1932
12 Übersetzt von Graf v. Rothenburg a.a.O., 3; vgl. Anmerkung 1
13 ebenda, 3
14 ebenda, 6
15 ebenda, 6
16 ebenda, 16
17 vgl. hierzu Till a.a.O.
18 Freud, Sigmund. Gesammelte Werke Bd. V. Frankfurt 1972. 6
19 vgl. Schmidt, Günter. Motivationale Grundlagen sexuellen Verhaltens. In Thomae, Hans (Hrsg.). Psychologie der Motive. Göttingen 1983
20 vgl. Levi, Howard. Chinese footbinding. 1970. Ferner: Morris, Desmond. Körpersignale. München 1985
21 Dieser Hinweis stammt aus der informationsreichen Arbeit von Schleidt a.a.O. 143
22 vgl. Bettelheim, Bruno. Kinder brauchen Märchen. Stuttgart 1977
23 Strindberg, August. Plädoyer eines Irren. Frankfurt 1977. 91
24 Goethe, Johann Wolfgang von. Faust. Der Tragödie zweiter Teil. Gütersloh 1972. 256
25 vgl. hierzu Göbel, Wolfgang und Michaela Glöckler. Kindersprechstunde. Stuttgart 19887
26 vgl. Lowen, Alexander. Hamburg 1979
27 Jung, Carl Gustav. Gesammelte Werke. Bd. 5. Ölten 1973. 305
28 vgl. hierzu Rolf, Ida P. Strukturelle Integration. Wandel und Gleichgewicht der Körperstruktur. München 1989
29 zitiert nach Schleidt a.a.O. 46
30 vgl. Kükelhaus, Hugo. Hören und Sehen in Tätigkeit. Zug 1978.60
31 vgl. hierzu: Glass, Norbert. Die Füße offenbaren menschlichen Willen. Stuttgart 1982
32 vgl. hierzu Kietz, Gertraud. Gang und Seele. München 1966
33 vgl. für das folgende Gellhaus, Axel. Schreiben - Gehen. Über die Gegend des Dichters. (Zu Nietzsche, Robert Walser, Bernhard und Handke). Antrittsvorlesung an der Universität Bonn 1993 (Unveröffentlichtes Typoskript) - vgl. auch Deisen, Andrea. Dem eigenen Rhythmus auf der Spur. Zur Psychologie des Wanderns. Diplomarbeit, angefertigt am Institut für Psychologie der Universität zu Köln, April 1994
34 Bernhard, Thomas. Gehen. Frankfurt 1971. 86
35 Walser, Robert. ,Für die Katz'. Prosa aus der Berliner Zeit 1928-1933. Bd. 4. Frankfurt 1986. 27
36 vgl. Wiechert, Ernst. Das einfache Leben. Wien, München, Basel 1946.64
37 Bloch, Ernst. Tübinger Einleitung in die Philosophie. Frankfurt 1964. 64
38 Nietzsche, Friedrich. Also sprach Zarathustra. Werke in zwei Bänden. München 1967. 459
39 ebenda 682
40 Rilke, Rainer Maria. Gesammelte Gedichte. Frankfurt/ Main 1962. 299 - Rilke gab seinem Gedicht die Überschrift: „Orpheus, Eurydike, Hermes"
41 vgl. Gellhaus a.a.O. 2
42 Das Zitat wird Augustinus zugeschrieben, doch Nachforschungen können das nicht bestätigen.
43 vgl. zum Tanz: Glass. A.a.O. - Wosien, Bernhard. Der Weg des Tänzers. Selbsterfahrung durch Bewegung. Linz 1988
44 vgl. Hopf, Wilhelm (Hrsg.). Fußball. Soziologie einer Sportart. Bensheim 1979. - Dombrowski, Oda. Psychologische Untersuchungen über die Verfassung von Zuschauern bei Fußballspielen. Ahrensberg 1975
45 Maradonna, Diego. Interview in: La Gazetta dello Sport. Lunedi, 6 settembre 1988, 23 (Übers. des Autors)
46 vgl. Kükelhaus, Hugo. a.a.O. Ferner: Kükelhaus, Hugo und Rudolf zur Lippe. Entfaltung der Sinne. Frankfurt 1991
47 Ringelnatz, Joachim. Gedichte und Prosa. Berlin 1964. 134